Ich stöber gerade in einem Buch von Dr. med. Helmut Kiene vom Institut für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie e. V. in Bad Krozingen mit dem schönen Titel 😉 “Komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung” (Cognition-based Medicine. Berlin – Heidelberg – New York: Springer; 2001, 193 S. ISBN 3-540-41022-8, gibts auch hier im Volltext als PDF)
Dem Autor geht es um eine Entwicklung der evidenzbasierten (Evidence-based Medicine) Medizin hin zur erkenntnisbasierten (Cognition-based Medicine).
Aus dem Umschlagstext:
Dieses Buch präsentiert, was in den großen blinden Fleck der konventionellen Methodenlehre fällt und deshalb inexistent zu sein scheint: die Methoden des nicht-statistischen Nachweises der therapeutischen Wirksamkeit am individuellen Patienten, ebenso das dazugehörige System klinischer Forschung. Die Analyse der individuellen Therapiebeurteilung bildet die Grundlage für eine Aufwertung des ärztlichen Urteils und der ärztlichen Erfahrung. Die Konsequenzen sind weitreichend und gehen alle an, die an der Gestaltung des Gesundheitswesens beteiligt sind: Ärzte, Therapeuten, Gesundheitsökonomen, Juristen, Politiker, Methodiker, Statistiker… Das Buch spannt den Bogen von der ärztlichen Erkenntnislehre bis zu aktuellen gesundheitspolitischen Themen.
Hier ein Ausschnitt aus der Einführung, danach gibts auch noch ein paar Links zum Thema:
Ein Schritt über Evidence-based Medicine hinaus
Auf den ersten Blick mag die komplementäre Methodenlehre mit ihrem Anspruch,das Wissenschaftsprinzip der Medizin,zumindest zum Teil,auf die Methodik der Wirksamkeitsbeurteilung am einzelnen Patienten zurückzuführen, wie ein rückschrittlicher Anachronismus erscheinen. In Wirklichkeit aber bietet diese Perspektive eine konsequente Weiterentwicklung jener wissenschaftlich-sozialen Reform der Medizin, die unser gesamtes Jahrhundert durchzieht, und deren Ziel es ist, Ärzte in die Lage zu versetzen,optimale Therapien zu verabreichen („the best therapies available“ [364]).
In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts war es die Laborforschung, die das Maß der Wissenschaftlichkeit einer Therapie abgab; als wissenschaftlich und rational sollten nur Behandlungen gelten,deren Wirkung und Wirkungsmechanismus im Labor geklärt waren [364]. Dadurch waren, per definitionem, alle neuen Arzneimittel,die aus dem chemisch-pharmazeutischen Labor stammten,wissenschaftlich und rational. Andererseits aber konnten mit den damals beschränkten Methoden der Laboruntersuchung selbstverständlich nicht sogleich auch alle möglichen Wirkprinzipien der eher traditionell eingesetzten Arzneimittel demonstriert werden. Diese Arzneimittel wurden deshalb im allgemeinen als unwissenschaftlich diskreditiert,und zwar unabhängig davon,ob sie in der therapeutischen Anwendung faktisch wirksam waren oder nicht. Überhaupt mußte, solange die Wirksamkeit der Therapien nicht an den Patienten selbst bestimmt wurde,zwangsläufig offenbleiben, ob die jeweilige „wissenschaftliche“ Behandlung für die Patienten auch die tatsächlich wirksamere war.
Um die Mitte des Jahrhunderts trat diese wissenschaftlich-medizinische Reform – diese „therapeutische Reform“ [364] – in ihre zweite Phase. Nun war das Prinzip der randomisierten Studie entwickelt und etabliert worden,und so war es nicht mehr primär entscheidend, ob ein Wirkmechanismus aufgezeigt werden konnte; vielmehr hatte man nun, über die Laborforschung hinaus,eine wissenschaftliche Methodik für den Beleg der Therapiewirksamkeit direkt an den Patienten selbst. Mit diesen randomisierten Studien war und ist das immanente Ziel verbunden,zu objektiven Aussagen über Therapiewirksamkeiten zu kommen,indem das persönliche Urteil des behandelnden Arztes ausgeschaltet wird. Die randomisierte, wenn möglich verblindete Studie war nun der Goldstandard der Therapiebeurteilung: „Reformers in the second half of the century … offered an impersonal standard of scientific integrity: the double-blind, randomized, controlled clinical trial“ [364,S. 3].
Mittlerweile werden jährlich 9000 randomisierte klinische Studien durchgeführt [114],was allerdings zur Konsequenz hat,daß es für den einzelnen Arzt nicht mehr möglich ist,den wissenschaftlichen Fortschritt gebührend zu verfolgen. Aus diesem Grunde wäre trotz intensiver Bemühungen um weltweite klinische Forschung weiterhin nicht sichergestellt,daß die Ärzte die optimalen Therapien („the best therapies available“) einsetzen können. Gegen Ende dieses Jahrhunderts jedoch,seit Mitte der 90er Jahre,er öffnet sich die Aussicht, dieses Mengenproblem mit Hilfe der raschen Zugriffsmöglichkeiten der elektronischen Medien zu bewältigen. Damit erreichte die wissenschaftlich-medizinische Reform ihre dritte Phase: die „Evidence-based Medicine“.
In der Evidence-based Medicine sollen die Ergebnisse wissenschaftlich tragfähiger Studien – die sogenannte Evidenz – dem therapeutisch tätigen Arzt systematisch verfügbar gemacht werden. Hierzu werden Studienergebnisse gebündelt und in der Literatur,v or allem eben auch in elektronischen Medien, bereitgestellt (durch Meta-Analysen,z. B. seitens der Cochrane Collaboration [80]). Außerdem wird der Arzt speziell ausgebildet,um für den konkreten Behandlungsfall die relevante Evidenz aus dem Informationsangebot extrahieren, beurteilen und praktisch umsetzen zu können. Derart geschult soll der einzelne Arzt in die Lage versetzt werden,die jeweilige Behandlung eines Patienten nicht an bloßer Konvention oder tradierter Autorität auszurichten, sondern unmittelbar am aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung („the best evidence available“ [364]).
Evidence-based Medicine soll so ein Instrument zur Befreiung des einzelnen Arztes und Therapeuten aus der Situation des Informationsmangels sein; außerdem soll sie vor der Überfülle an minderqualifizierter Information schützen. Zugleich aber wird diese Evidencebased Medicine auch vom Gesetzgeber, von Zulassungsbehörden, von Health-Maintainance-Organisationen, von Krankenkassen, vom Medizinischen Dienst usw. als Steuerungsinstrument der Gesundheitspolitik benutzt, und damit wird Evidence-based Medicine, jedenfalls gegenüber dem Arzt,a uch zu einem Instrument der Beschränkung und Ausschließung. Schließlich wird in einer Evidence-based Healthcare gefordert,es sollten die Entscheidungsträger im Gesundheitswesen dafür Sorge tragen,daß Therapiemaßnahmen,der en Wirksamkeit nicht bewiesen ist,nicht neu eingeführt werden („stop them starting“) oder, falls sie bereits in Gebrauch sind,nich t länger praktiziert werden („start stopping them“) [189].
Bei dieser Forderung bleibt jedoch unberücksichtigt, daß das Fehlen eines Wirksamkeitsbeweises nicht der Beweis einer Unwirksamkeit ist („absence of evidence is not evidence of absence“ [11]). Somit besteht derzeit eine Parallele zu jener ersten Phase der wissenschaftlich-sozialen Reform der Medizin,als der rationale Charakter einer Therapie daran bemessen werden sollte, ob Wirkung und Wirkmechanismus im Laborexperiment demonstriert waren,und als es keinen wissenschaftlichen Maßstab dafür gab,o b diese „rationalen“,im Labor erforschten Therapien denn tatsächlich besser sind als die anderen,damal s traditionellen Therapien (s. oben). Analog hierzu kann man nun in solcher Evidence-based Healthcare nicht wissen, ob die Therapien, für die ein Wirksamkeitsnachweis in randomisierten Studien erbracht wurde, tatsächlich wirksamer und kostengünstiger sind als solche, für die es kein Ergebnis einer randomisierten Studie gibt,zumal es viele Gründe gibt – ethische, praktische, technische, finanzielle usw. –, war um randomisierte oder gar doppelblinde Studien für eine Vielzahl von Therapieansätzen nicht oder kaum durchführbar sind (Details s. S. 79ff). Ein Nicht-Wissen ist aber das Gegenteil von Evidenz.
Somit ist in dieser Hinsicht die heutige Evidence-based Healthcare eben nicht Evidenz-basiert. So hat man die paradoxe Situation, daß es für die Basis der Entscheidungskriterien der Evidence-based Healthcare selbst keine Evidenz gibt, es sei denn den Glauben, daß außerhalb randomisierter Studien, oder allgemein: außerhalb formalisierter Verfahren prinzipiell keine verläßlichen Erkenntnisse über Therapiewirksamkeiten zustandekommen könnten, und daß es deshalb legitim sei, die nicht formalisierte ärztliche Erfahrung bei der Sozialgestaltung der Medizin zu ignorieren. Doch diese Auffassung ist selbst nicht mit ihren eigenen Methoden, mit randomisierten Studien, überprüft; sie ist in diesem Sinne nicht ein wissenschaftliches Wissen, sondern eine Glaubensangelegenheit, was natürlich eine unbefriedigende Situation ist. Ausgehend von diesem Dilemma kann nun die komplementäre Methodenlehre einen Beitrag zum weiteren Fortschreiten der wissenschaftlich-sozialen Reform der Medizin leisten,indem das Spektrum der wissenschaftsfähigen Möglichkeiten des Wirksamkeitsnachweises gerade an jenem Punkt erweitert wird,der bislang methodologisch ausgespart blieb,nämlich bei der Beurteilung der individuellen Therapiesituation durch den verantwortlichen Arzt. Damit wird aber, wie bei jeder Erweiterung,der Stellenwert des Bisherigen relativiert.
Genauso wie die klinisch-therapeutische Forschung die präklinische Forschung im Labor ergänzt und damit zugleich deren ansonsten monopolistische Bedeutung einschränkt,s o erweitert und ergänzt die komplementäre Methodenlehre die am Goldstandard der randomisierten Studie ausgerichtete Methodologie und hebt dabei zugleich deren Monopol auf.
Während Evidence-based Medicine sich auf wissenschaftliche Evidenz stützt,die prinzipiell außerhalb der jeweiligen konkreten Therapiesituation und,im allgemeinen,auch nicht von dem betreffenden Arzt gewonnen wurde – es ist eine sogenannte „externe Evidenz“ [447] –, befaßt sich die komplementäre Methodenlehre gerade mit der Wirksamkeitsbeurteilung in der individuellen Therapiesituation. Somit ist die komplementäre Methodenlehre als die Methodologie einer Erkenntnis-basierten Medizin zu verstehen; oder angelehnt an die Anglismen der heutigen Methodologie: Es handelt sich – im Unterschied zur Evidence-based Medicine – um eine Cognition-based Medicine.
Ein paar Links dazu: