Die Geschichte von der traurigen Traurigkeit

Von Inge Wuthe

Es war einmal eine kleine Frau, die einen staubigen Feldweg entlanglief. Sie war offenbar schon sehr alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens.

Bei einer zusammengekauerten Gestalt, die am Wegesrand saß, blieb sie stehen und sah hinunter.

Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Decke mit menschlichen Konturen.

Die kleine Frau beugte sich zu der Gestalt hinunter und fragte: „Wer bist du?“ „Die Geschichte von der traurigen Traurigkeit“ weiterlesen

Wo warst Du?

In einem kleinen Tal droht Hochwasser. Ein Mann eilt mit seinem Auto zum Haus des Rabbis, um ihn in Sicherheit zu bringen. „Nicht nötig“, antwortet der fromme Mann, „der Herr wird mich schon retten.“

Als der Rabbi schon wegen des Hochwassers in den ersten Stock geflüchtet ist, kommt ein weiteres Gemeindemitglied vorbei, mit einem Boot, um den Rabbiner zu retten. „Nicht nötig, der Herr wird mich schon retten.“

Am Schluss sitzt der Rabbi auf dem Dach, so hoch ist das Wasser inzwischen gestiegen. Ein Hubschrauber kommt, um den Rabbi zu retten. Aber auch der Pilot bekommt die gleiche Antwort wie seine beiden Vorgänger.

Schließlich ertrinkt der Rabbi – und steht klagend vor seinem Gott: „Herr, wo warst du? Warum hast du mich nicht gerettet?“ – „Nun“, antwortet Gott, „ich habe dir ein Auto geschickt, ein Boot und sogar einen Hubschrauber. Die Frage ist doch: Wo warst du?

Aus dem Jüdischen

Sklaverei

Die Menschen sind Sklaven des Lebens; Sklaverei füllt ihre Tage mit Schmach und Erniedrigung und taucht ihre Nächte in Blut und Tränen.

7000 Jahre sind seit meiner Geburt vergangen, und seitdem sehe ich nichts anderes als unterwürfige Sklaven und gefes­selte Gefangene.

Ich habe den Osten und den Westen der Erde bereist; ich ließ mich im Schatten des Lebens nieder und in seinem Licht. Ich sah Nationen und Völker aus ärmlichen Hütten in prächtige Schlösser ziehen, aber ihre Nacken waren un­ter schweren Lasten gebeugt, ihre Handgelenke gefesselt, und sie knieten vor Götzenbildern. „Sklaverei“ weiterlesen

Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah

Von Haruki Murakami

Eines schönen Morgens im April komme ich auf einer kleinen Seitenstraße in Harajuku an dem 100%igen Mädchen vorbei.

Ehrlich gesagt, ist sie nicht besonders hübsch. Sie ist weder besonders auffällig, noch ist sie schick gekleidet. Ihre Haare sind hinten vom Schlaf verlegen. Sie ist nicht mehr jung. So an die dreißig wird sie sein, nicht eigentlich ein Mädchen. Aber trotzdem weiß ich schon aus fünfzig Meter Entfernung: Sie ist für mich das 100%ige Mädchen. Bei ihrem Anblick dröhnt es in meiner Brust, und mein Mund ist trocken wie eine Wüste. „Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah“ weiterlesen

Wann endet die Nacht?

Ein weiser Rabbi stellte seinen Schülern einmal die folgende Frage: „Wie bestimmt man die Stunde, in der die Nacht endet und der Tag beginnt?“ Einer der Schüler antwortete: „Vielleicht ist es der Moment, in dem man einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“ Der Rabbi schüttelte den Kopf. „Oder vielleicht dann, wenn man von weitem einen Dattel- von einem Feigenbaum unterscheiden kann?“ Der Rabbi schüttelte wieder den Kopf. „Aber wann ist es dann?“ Der Rabbi antwortete: „Es ist dann, wenn ihr in das Gesicht eines beliebigen Menschen schaut und dort eure Schwester oder euren Bruder erkennt. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“

Jüdische Erzählung