Atheismus in Deutschland – eine unerwünschte Weltsicht

Mal wieder etwas Lesenswertes, das die Situation treffend analysiert: Kalter Krieg um Gottes Leere: Atheismus in Deutschland – eine unerwünschte Weltsicht

[…] Die bedrohliche Erscheinung, der deutsche Medien zurzeit mit Verve begegnen, heißt Atheismus. Vor allem in seiner Ausprägung als »aggressiver missionarischer Atheismus«, wie ihn der deutsche Kurienkardinal Walter Kasper ausgemacht hat. Eine rhetorische Kerbe, in die diverse Autoren dieser Debatte offenbar mit Vergnügen hauen. […]

Doch wo findet es statt, dieses Missionieren, ob nun mehr oder weniger aggressiv? Machen die Atheisten in den Fußgängerzonen der Städte mittlerweile den Zeugen Jehovas oder Scientology das Terrain streitig? Rotten sich die Gottesleugner (griechisch: atheos = ohne Gott) vor den Kirchen zusammen und behelligen friedliche Gläubige? Stürmen sie Fernsehstudios, um das »Wort zum Sonntag« durch die Lästerung des Herrn zu ersetzen?

Allein der Umstand, dass es sich beim Atheismus – abgesehen von ein paar mitgliederschwachen Vereinen – um keine organisierte Bewegung, sondern um eine eher individuelle Geisteshaltung handelt, die im Unterschied zur Religion keiner rituell-zeremoniösen Infrastruktur bedarf, macht die Absurdität des Missionierungsvorwurfs deutlich. Hinzu kommt, dass in Deutschland die Medien eingebunden sind in ein über Jahrzehnte gewachsenes religiös-kirchliches Einflusssystem, das vor allem die beiden Großkirchen beherrschen. Deren direkte Interessenvertretungen in öffentlich-rechtlichen Medienanstalten werden im privatkapitalistischen Bereich ergänzt durch offene ideologisch-kommerzielle Zweckbündnisse wie das zwischen »Bild«-Zeitung und Vatikan sowie eine insgesamt christlich-kirchenkonforme redaktionelle Tendenzhaltung.

Was hat dem ein Atheismus entgegenzusetzen, der sich vornehmlich in Büchern artikuliert? […]

Bezeichnenderweise finden deutsche Autoren mit ihren durchaus ebenbürtigen Arbeiten zu dieser Thematik in Deutschland entweder nur kleine Verlage oder sie müssen die Herausgabe gar in sogenannten Autorenverlagen selbst finanzieren. […]

Dass deutsche Großverlage bei der brisanten Thematik Religionskritik / Atheismus nichtdeutsche Autoren vorziehen, hat zweifellos mit der Furcht vor dem Risiko zu tun, sich durch dezidierte Auseinandersetzungen mit den deutschen Zuständen den Unmut der Kirchen und ihrer politischen Lobby zuzuziehen. […]

Die Essenz der Diffamierungen des Atheismus besteht darin, dass ohne den Glauben an eine höhere Macht – und die entsprechende Furcht vor dieser – der Mensch zu moralisch angemessenem Verhalten unfähig sei. Diese Sichtweise ignoriert nicht nur wesentliche Traditionen der Geistesgeschichte, sondern denunziert zugleich rund 1,1 Milliarden nichtreligiöse Menschen respektive – auf Deutschland bezogen – 23,4 Millionen Bürger, denen damit sittliches Denken und Handeln de facto abgesprochen wird. Und wehe dem Gemeinwesen, wenn solche Menschen Zugang zu verantwortlichen Positionen in Staat und Gesellschaft bekommen! Meist wird diese anmaßende Warnung verhüllter formuliert, als sie der rechtskonservative Philosoph Günter Rohrmoser verkündet: »Wenn die Macht in die Hände von Leuten gelegt wird, die nichts Höheres über sich anerkennen und denen also nichts heilig ist, dann sind wir verloren. Denn diese Politiker sind grundsätzlich zu allem im Stande.«

Wie tief solch bizarre Sicht politisch verwurzelt ist, zeigt der Deutsche Bundestag. Von den 612 Abgeordneten sind 208 evangelisch und 183 katholisch. 26 bezeichnen sich als konfessionslos, 4 sind Muslime – und 1 (in Worten: eine) Frau bekennt sich offiziell als Atheistin: Simone Violka (SPD) aus Sachsen.

Nun kann man gewiss davon ausgehen, dass unter den 190 Volksvertretern, die keine Auskunft über ihre Konfession gaben, etliche Atheisten sind. Dass Politiker im »Kirchenstaat« Deutschland eine solche Bezeichnung vermeiden, ist so verständlich wie erschreckend. Eine Interessenvertretung für diesen diskreditierten Stand erweist sich somit im Bundestag als überflüssig. Dafür hat jede Fraktion ihren Kirchen- und Religionsbeauftragten. Was ja angesichts der als Wiederkehr der Religion euphemisierten Gegenaufklärung parlamentarisch-demokratischen Sinn macht. Und alle fünf Beauftragten gehören – wie überraschend – jeweils einer der beiden christlichen Großkirchen an. […]

Sehr schön auch die beiden Zitate am Schluss des Artikels:

“Allein Gott, das höchste Gut, bildet die unverrückbare Grundlage und unersetzbare Voraussetzung der Sittlichkeit, also der Gebote, im Besonderen jener negativen Gebote, die immer und auf jeden Fall die mit der Würde jedes Menschen als Person unvereinbaren Verhaltensweisen und Handlungen verbieten.”
Papst Johannes Paul II., Enzyklika »Veritatis splendor« (Der Glanz der Wahrheit)

“In meinen Augen muss es um die Selbstachtung schon sehr schlecht bestellt sein, wenn man meint, der Glaube an Gott müsse nur aus der Welt verschwinden, und schon würden wir uns alle in gefühllose, egoistische Hedonisten verwandeln, die keine Freundlichkeit besitzen, keine Nächstenliebe, keine Großzügigkeit, nichts, was den Namen des Guten verdient.”
Richard Dawkins, »Der Gotteswahn«